«Demnach altem Herkommen …» – Das Besigheimer Heringsmahl
Einst versammelte sich alljährlich am 27. Dezember, am Tag des Evangelisten Johannis, die Besigheimer Honoratiorenschaft auf dem Rathaus, um nach erfolgter Weinrechnung (der öffentlichen Bekanntgabe des amtlich festgesetzten Durchschnittspreises für Wein) und von den Gesängen der Schulknaben begleitet, das Heringsmahl abzuhalten. Dann wurden Heringe, die man meist aus Heilbronn bezog, mit frischem Brot verspeist und dazu heimischer Wein aus dem Stadtkeller gereicht. Zu den geladenen Gästen zählten neben Vogt und Magistrat, auch die beiden Ortsgeistlichen sowie die Schul- und Gemeindebediensteten, manchmal auch Offiziere, wenn das Militär in der Stadt einquartiert war.
Wann dieses beliebte Festmahl erstmals eingeführt wurde ist nicht bekannt. Ob es sich dabei tatsächlich um eine Stiftung des nicht näher bekannten Paul Wild handelt, der für die Abhaltung des Heringsmahls einen Betrag von 30 fl. Gulden zur Verfügung gestellt haben soll, wie schon der frühere Stadtpfarrer und Ortschronist Friedrich Breining zu berichten wusste, bleibt ungewiss. Dagegen erlauben mehrere überlieferte Schriftstücke, die sich in einem kleinen Aktenkonvolut im Besigheimer Stadtarchiv befinden, tiefere Einblicke in diese, kaum mehr bekannte, Form der Neujahrsverehrung.
Der älteste Aufschrieb stammt aus dem Jahr 1658 und ist als «Zöhrungs Zettel» überschrieben. Die vom Stadtschreiber aufgesetzte Notiz verrät, dass jenes Heringsmahl nicht wie sonst üblich auf dem Rathaus eingenommen, sondern portionsweise dem «Kürchen- und Schuldiener, Herrn Vogt, Stattschreiber, Bürgermeister, Gericht und Rath […]» mittels Stadtknecht nach Hause geschickt wurde. Etwaige Gründe sind dafür nicht genannt, doch dürften die nachweislich unruhigen Zeiten, kurz nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges, sowie das schwer beschädigte Rathaus hierfür verantwortlich gewesen sein. Zudem überrascht, dass die Kostenaufstellung neben Käse und Salat auch Bratwürste, Kalb- und Rindfleisch berücksichtigt, die der damalige Metzger Hans Reuschle zu liefern hatte, so dass nur schwerlich von einem bloßen Fischmahl die Rede sein konnte.
Eine weitere Aufzeichnung ist aus dem Jahr 1685 überliefert. Sie beginnt mit den Worten: «Demnach altem Herkommen gemäß es üblich gewesen, am Tag Johannis Evang. das sogenandte HeringsMahl auf dem Rathaus, denen Herren Gaistlichen, Vogt, Bürgermeister, Gericht und Rath, Schuldienern, undt andern herrschaftlichen Bedientesten zuraichen.» Auch in diesem Jahr wurden statt der sonst üblichen Heringsportionen Bratwürste kredenzt, was durch gerichtlichen Beschluss legitimiert und festgehalten wurde: «anstatt des bisher überschifften Hering, Gerichtlich geschlossen worden, Bratwürste auszutheilen». Dem schließt sich eine lange namentliche Auflistung sämtlicher teilnehmender Honoratioren an, die mit Pfarrer Magister Spilbiller, Vogt Meurer, Helfer Magister Zeller beginnt und im Ganzen 46 Personen umfasst. Deren Speisenumfang ist gewissenhaft protokolliert: So erhielt der Vogt die größte aller Portion, die 6 Bratwürste mit Brot und 2 Maß Wein umfasste, gefolgt von den beiden Ortsgeistlichen sowie den Bürgermeistern Doderer und Mercklin, die Anspruch auf 4 Bratwürste, ebenso viele Portionen Brot und 2 Maß Wein hatten. Alle anderen erhielten sehr viel kleinere Rationen, entsprechend ihres Standes. In summa wurden 122 Bratwürste mit Brot verzehrt und 89 Maß Wein getrunken.
Die beiden anderen Schriftstücke, die in die Jahre 1710 und 1721 datiert werden, nennen gleichfalls die geladenen Honoratioren in standesgemäßer Reihenfolge, die immer mit der Ortsgeistlichkeit und dem Vogt beginnt, und listen sämtliche Portionen, getrennt nach Brot, Hering und Wein, auf. Demnach schwankte die Zahl der geladenen Honoratioren zwischen 45 und 51 Personen, wobei es sich hier keinesfalls um reine Männergesellschaften handelte. Vereinzelt waren auch Honoratiorenwitwen geladen. Und auch das Festmahl fand nicht immer am 27. Dezember statt, wie u. a. das Jahr 1721 beweist, als man die Amtsfeier auf den 30. Dezember verlegte.
Wie lange dieses Heringsmahl ausgerichtet wurde, ist bislang nicht bekannt. Mitte des 18. Jahrhunderts sollte es aufgrund von Einsparmaßnahmen abgeschafft werden, wogegen der Magistrat protestierte und geltend machte, dass das Heringsmahl als Neujahrsverehrung eine uralte Observanz sei. Tatsächlich scheint es noch längere Zeit weiter bestanden zu haben, wenn auch in veränderter Form. Schließlich wusste der eingangs erwähnte Stadtpfarrer Friedrich Breining um 1900, dass die beiden hiesigen Geistlichen jährlich von der Stadtpflege 2 Mark erhielten, die sie als „Häringsmahl“ genießen würden.